H. Lehmann: Studien zur Pietismusforschung

Cover
Titel
Religiöse Erweckung in gottferner Zeit. Studien zur Pietismusforschung


Autor(en)
Lehmann, Hartmut
Reihe
Bausteine zu einer europäischen Religionsgeschichte im Zeitalter der Säkularisierung 12
Erschienen
Göttingen 2010: Frankfurter elektronische Rundschau zur Altertumskunde (FeRA)
Anzahl Seiten
158 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Thomas Metzger, Seminar für Zeitgeschichte, Universität Freiburg (Schweiz)

Der Historiker Hartmut Lehmann leistet mit diesem Band einen weiteren Beitrag zur Geschichte des Pietismus, deren Erforschung er in den letzten Jahrzehnten massgeblich mitgeprägt hat. Der Band, der in der vom Autor herausgegebenen Reihe «Bausteine zu einer europäischen Religionsgeschichte im Zeitalter der Säkularisierung» erschienen ist, stellt eine Sammlung von elf Vorträgen dar, der eine längere Einleitung vorangestellt ist. Vier Beiträge sind in diesem Buch erstmals veröffentlich, die restlichen sieben wurden in den Jahren 2008 bis 2010 bereits publiziert. Der Band umfasst deutsch- und englischsprachige mehrheitlich essayistisch gehaltene Texte, ist kompakt gestaltet und bietet einen sehr aktuellen Einblick in die Pietismusforschung. Es geht meines Erachtens Hartmut Lehmann darum, mit Blick auf die vierbändige «Geschichte des Pietismus» (1993 bis 2004), die den Forschungsfokus im Vergleich zu früheren Standardwerken sowohl zeitlich wie geographisch deutlich ausweitete, Konzepte weiterzudenken und aufzuzeigen, dass der Pietismus noch verstärkt inter- und transnational sowie interdisziplinär zu beleuchten ist. Dies zeigt sich nicht zuletzt in den vom Autor im Buch wiederholt formulierten Forschungsdesiderata (siehe z.B. 9–10, 98–100, 153).

Die elf Kapitel des Buches beleuchten verschiedene Aspekte des Pietismus vom 18. Bis ins 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der in der Einleitung skizzierten und postulierten neuen Forschungsansätze. Die Kapitel des Bandes folgen hierbei keiner bestimmten thematischen Untergliederung. Nimmt man eine Gruppierung vor, so lassen sich drei Schwerpunkte ausmachen. Eine Gruppe von Texten (Kapitel 1 und Kapitel 8 bis 11) inklusive der Einleitung befasst sich mit konzeptionellen, theoretischen und historiographischen Fragen der Pietismusforschung. Ein zweiter Fokus wird auf pietistische Organisationsformen und innerpietistische Beziehungen (Kapitel 2 und Kapitel 6 bis 7) und ein weiterer auf Konsequenzen der unterschiedlichen religionspolitischen Voraussetzungen in Europa und Nordamerika gelegt (Kapitel 3 bis 5). Inhaltliche Redundanzen weist das Buch hierbei kaum auf, worin sich die gute Redaktion zeigt.

Die konzeptionelle Richtung gibt Hartmut Lehmann bereits in der Einleitung vor. Er spricht sich dafür aus, und darin ist ihm beizupflichten, einen flexiblen Pietismus-Begriff zu verwenden, der sich auf typologische Merkmale bezieht und der deswegen auf Vorstellungen, die in den Begriffen «revival», «awakening» und «Erweckungsbewegung» zum Ausdruck kommen, Bezug nimmt (S. 13). Dies führt unweigerlich dazu, dass der Untersuchungsgegenstand der Pietismusforschung chronologisch und geographisch ausgedehnt werden muss. Die Fokussierung auf den deutschsprachigen Raum und die klassische Datierung auf die Zeit von 1670 bis 1780 ist nicht mehr zu halten. Diese Öffnung der Pietismus-Konzeption betont Hartmut Lehmann ebenfalls im 1. Kapitel, in welchem er den Pietismus im Kontext der transatlantischen religiösen revivals thematisiert. Der Pietismus wird darin als Teil einer Reihe religiöser revivals in Zentraleuropa gesehen, die wiederum nur im Zusammenhang mit revivals in anderen Ländern Europas und der Atlantischen Welt zu verstehen sind. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich in diesem Fall vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. In Kapitel 11 fordert der Autor zusammen mit dem Überschreiten konfessioneller Grenzen, indem ähnliche Entwicklungen im Katholizismus und im Judentum mit in die Forschungen einbezogen werden sollten, eine chronologische Ausdehnung auf das 16. und eventuell sogar auf das 15. Jahrhundert (151). In Kapitel 10 fragt Hartmut Lehmann unter anderem nach der Haltung des Pietismus gegenüber den Regierungen und dem Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert und diskutiert Zusammenhänge mit dem Freikirchentum. Historiographischen und begriffsgeschichtlichen Fragestellungen gehen die Kapitel 8 und 9 nach. Der Autor zeichnet hier einerseits die Entstehungsgeschichte der zwischen 1880 und 1886 erschienenen dreibändigen Geschichte des Pietismus Albrecht Ritschls nach, die als Standardwerk das Bild des Pietismus über fast ein Jahrhundert prägte. Vor allem anhand der Darstellungen seines Sohnes, Otto Ritschl, präsentiert Hartmut Lehmann die theologischen und kirchenpolitischen Überzeugungen, die Ritschls Forschungen prägten und die beispielsweise dazu führten, dass er den Pietismus als grosse Gefahr für das «genuine Luthertum» sah. Andererseits zeigt der renommierte Historiker am Beispiel der historiographischen Charakterisierung des Predigers Ludwig Hofacker auf, dass der Begriff «Erweckungsbewegung» kein Konzept des frühen 19. Jahrhunderts war, sondern erst später von Kirchenhistorikern und evangelikalen Christen auf diese Zeit angewandt wurde.

Die aufschlussreichen Darstellungen über die pietistischen Organisationsformen verdeutlichen die innerpietistischen Transformationen vom 17. bis ins 19. Jahrhundert. Die «Sammlung der Frommen» in Konventikeln im vom Staastkirchentum geprägten Deutschland des späten 17. und 18. Jahrhunderts war potentiell konfliktträchtig, insbesondere dann, wenn damit separatistische Tendenzen verbunden waren (Kapitel 2). Entsprechend sahen sich diese Pietisten Anfeindungen von Seiten der staatlichen und kirchlichen Obrigkeiten ausgesetzt. Wichtige Triebfeder für diese Vergemeinschaftungen waren endzeitliche Erwartungen. Die Vorstellung eines manichäischen Kampfes zwischen «Gottes wahren Kindern » und «teuflischen Kräften», die vor allem durch die Französische Revolution und die Revolutionen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine vermeintliche Bestätigung fanden, führte zu einer Mobilisierung «der Frommen» in Vereinen und Einrichtungen der äusseren und inneren Mission. Hartmut Lehmann veranschaulicht diesen Prozess an der Christentumsgesellschaft in Basel, jener Stadt, die neben London zum Zentrum pietistisch motivierter Missionsbestrebungen wurde (Kapitel 7). Die missionarischen Tätigkeiten hatten gemäss der Eschatologie der Pietisten zum Ziel, der Errichtung des «Reichs Gottes » auf Erden vorzuarbeiten. Einen innerpietistischen Gesichtspunkt beleuchtet ebenfalls das 6. Kapitel. Der Autor beschreibt darin Magnus Friedrich Roos als Brückenbauer zwischen dem württembergischen Pietismus und der Basler Christentumsgesellschaft sowie der Herrnhuter Brüdergemeinde.

Mit der kirchlichen und rechtlichen Ausgrenzung insbesondere des «radikalen Pietismus» in Deutschland befassen sich die Kapitel 3 bis 5 des Sammelbands. Hartmut Lehmann zeigt diese am Beispiel Württembergs auf und diskutiert sie vor dem Hintergrund des sich in diesem Herzogtum etablierenden «aufgeklärten Absolutismus» (Kapitel 5). Der Gegensatz zwischen einem System des religiösen Pluralismus wie es in den USA spätestens ab dem 19. Jahrhundert existierte und den immer noch staatskirchlich geprägten Zuständen in Deutschland ist mit unterschiedlichen Akzentuierungen Thema des 3. und 4. Kapitels. Die religiösen Restriktionen auf dem Territorium Deutschlands führten zur Emigration nonkonformistischer Gruppen nicht zuletzt in die USA. Hierbei geht Hartmut Lehmann der These nach, ob dieser Exodus die Herausbildung eines religiösen Pluralismus in den deutschen Staaten behindert habe.

Das Buch «Religiöse Erweckung in gottferner Zeit» von Hartmut Lehmann ist ein konsequentes Plädoyer für die Einbettung des Pietismus in das breitere Phänomen der Erweckungsbewegungen beziehungsweise der religiösen revivals und awakenings. In seinen konzeptionellen Überlegungen zeigt der Autor auf, wie wichtig der internationale Blickwinkel und die Betrachtung des Phänomens über den Zeitraum hinweg, der in den traditionellen und deutschlandzentrischen Forschungsansätzen gemeinhin als Periode des klassischen Pietismus bezeichnet wurde, sind. Verflechtungs- und transfergeschichtliche Herangehensweisen bieten sich meiner Meinung nach besonders für künftige Forschungen in diesem Bereich an.

Zitierweise:
Thomas Metzger: Rezension zu: Hartmut Lehmann, Religiöse Erweckung in gottferner Zeit. Studien zur Pietismusforschung (=Bausteine zu einer europäischen Religionsgeschichte im Zeitalter der Säkularisierung, Bd. 12), Göttingen, Wallstein Verlag, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 104, 2010, S. 504-506

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